Lesung von Dr. Manfred Osten im Gespräch mit Prof. Dr. Christof Wingertszahn im Goethe Museum, Düsseldorf
Heute Abend im Goethe Museum im wunderschönen (Prunk-) Saal in der zweiten Etage. Die Lesung bezieht sich auf das erst kürzlich erschienene Buch Ostens, dessen Titel auch diese Veranstaltung trägt: Die Welt, „ein großes Hospital“. Goethe und die Erziehung des Menschen zum „humanen Krankenwärter“. Museums-Direktor Prof. Dr. Christof Wingertszahn moderiert den Vortrag vor etwa 40 illustren Gästen.
![Dr. Manfred Osten im Goethe Museum Düsseldorf](http://gretarosaeternelle.de/wp-content/uploads/2022/04/IMG_4782-1024x829.jpg)
Nucleus des Buches sei der Begriff der Reinheit. Für Goethe sei die Reinheit der Luft die Bedingung unserer Existenz, erfahre ich. „Aus der Sicht Goethes sind wir ein Zögling der Luft. Wir greifen auf die Reinheit der Luft final ein.“
Im Athemholen sind zweyerley Gnaden:
Johann Wolfgang von Goethe (Buch des Sängers, Talismane)
Die Luft einziehen, sich ihrer entladen;
Jenes bedrängt, dieses erfrischt;
So wunderbar ist das Leben gemischt.
Du danke Gott, wenn er dich preßt,
Und dank‘ ihm, wenn er dich wieder entläßt.
Osten zeigt eine überraschend neue Sicht auf Goethes Werk und seiner Aktualität auch hinsichtlich der Corona-Pandemie (damals befürwortete Goethe zu Recht die Pockenimpfpflicht trotz einiger Impfdurchbrüche) und Klima-Debatten auf. Er beeindruckt durch textsichere Zitate, druckreife Formulierungen und teilt mit uns aufmerksamen Zuhörern dabei eine Vielzahl nachdenklich machender Erkenntnisse. Auch den Angriffskrieg gegen die Ukraine und die Impfpflichtdebatte weiß der Vortragende mit der Sorge Goethes um die Verfehlung des Zukunftsmodells einer vitalen globalen Gesellschaft zu verknüpfen.
Goethe und auch Humboldt seien mit ihren Gedanken zur Wertschätzung der Natur vor 200 Jahren ihrer Zeit weit voraus gewesen. Goethe habe quasi ein drohendes Multiorganversagen des Menschen befürchtet, verzichte er nicht darauf, die Natur mehr und mehr auszubeuten. Bemerkenswert ist, dass diese Gedanken in einer Zeit entstanden sind, in der nicht wie heute der Klimawandel offensichtlich und spürbar ist, aber durch die wachsende Industrialisierung und „Freisetzung der Wälder“ schon voraussehbar.
Die Natur duldet keine Späße des Menschen. Die Natur hat immer recht.
Johann Wolfgang von Goethe
Doch wie kann der Mensch angesichts der „Krankheit zum Tode“ gesunden im „großen Hospital“? In einer Welt des „Ultra“ auf Kosten der Natur empfehle Goethe einen grundsätzlichen Sinneswandel hin zu „Mäßigung“, um das Leben als „schönste Erfindung (der Natur)“ zu erhalten. Eine besondere Bedeutung komme hier der Stärkung der Resilienz zu Zeiten einer globalen Immunschwäche.
Dieser Vortrag hat mich sehr inspiriert und neugierig auf Goethe gemacht und macht Lust auf mehr. Mit Goethes Sicht auf die Romantiker tue ich mich allerdings etwas schwer. Sie seien „Hungerleider nach dem Unerreichlichen“. Ist es nicht auch schön, neben der Sicht auf die Realität auch den Blick für Wünsche und Träume offenzuhalten?
Im Anschluß an den Vortrag entbrannte eine rege Diskussion über die Übertragbarkeit Goetheschen Denkens auf die heutigen politischen und gesellschaftlichen Anforderungen. Wäre dieses nicht auch der Sollten sich dieses nicht auch unsere politischen Entscheidungsträger angesichts der Herausforderungen unserer Zeit zu Gemüte führen und zu Herzen nehmen?
![Birgit Strack im Gespräch mit Dr. Manfred Osten](http://gretarosaeternelle.de/wp-content/uploads/2022/04/IMG_4783-722x1024.jpg)
Aufgrund der Pandemie haben derartige Vorträge lange Zeit im Goethe Museum nicht stattfinden können. Jetzt soll es solche wunderbaren Veranstaltungen laut Direktor Prof. Dr. Christof Wingertszahn wieder regelmäßig geben. Gleich vormerken: Die nächste Lesung findet am 11. Mai statt mit dem Titel Goethe und der Koran, Prof. Dr. Karl-Josef Kuschel
Manfred Osten – Die Welt, „ein großes Hospital“, erschienen im Wallstein-Verlag.
Kennt Ihr auch schon meinen Beitrag zu meinem Besuch im Goethe Museum anlässlich der Ausstellung Luxus & Lifestyle?
Liebe Grüße
Eure Greta Rosa Éternelle ♥
Wie der erste Teil des Titels des Vortrags Dr. Manfred Ostens, über den hier dankenswerterweise zu lesen ist, und dessen gleichnamigen Buches Die Welt „ein großes Hospital“ durch die grausame Realität des Angriffes Putin-Russlands auf die Ukraine als Zustandsbeschreibung, neben der die längst nicht ausgestandene SARS-CoV-2-Pandemie beinah verblasst, anmutet!
Doch dem Goethe-Zitat im Titel folgt eine Rettungsperspektive: Goethe und die Erziehung des Menschen „zum humanen Krankenwärter“. 190 Jahre nach Goethes Tod scheint sich Nietzsches Urteil, nach dem „in der Geschichte der Deutschen Goethe ein Zwischenfall ohne Folgen“ sei, leider zu bewahrheiten.
Dass wir jedoch retrospektiv keine Lehre aus Goethes ästhetischen und vor allem seiner Naturerforschung sich verdankenden großen Denkbewegungen zu ziehen vermochten, verurteilt uns nicht, diese in unserer Gegenwart und für die Zukunft für uns nicht gerade noch fruchtbar werden zu lassen. Denn die Diagnosen der in ihrer multikausalen Verflechtung sich fatal auswirkenden Erkrankungen in unserem großen Hospital können zumindest dank der verdichteten Erkenntnisse Goethes, die uns der Goethe-Experte analytisch wie sinnfällig vor Augen führt, gestellt werden. Ohne diese Krankheitskenntnisse und eine passgenaue Urteilsfähigkeit angesichts der beschriebenen Immunitätsprobleme keine Heilung. Wie steht es also um uns?
Gehen die derzeit uns Deutsche maßgeblich Regierenden nicht schon quälend lange Wochen romantisierend über die Wirklichkeit der Abertausenden von Kriegsopfern in der Ukraine, den vermeintlichen Frieden auf Ihren dem Wohlstand fröhnenden Fahnen schwenkend, hinweg? Das friedensbewegte Mantra „Nie wieder Krieg!“ könnte angesichts der realen Grausamkeit der Kriegsverbrechen in Syrien, Georgien, auf der Krim, in der Ostukraine, in der gesamten Ukraine grotesker nicht klingen. Doch unterstelle ich unseren Spitzenpolitikern nicht den hier naheliegenden weltflüchtigen Wahnwitz, sehr wohl aber die Furcht, den deutschen BürgerInnen notwendige Mäßigung, d.h. Verzicht, Konsumreduktion, möglicherweise auf Kosten eigener Popularität abzuverlangen. Goethe postuliert dem gegenüber das Festhalten an einer Gesinnung „brüderlichen Wollens“ im Geiste eines übenden Lebens gegen den „starr-zähen Egoismus“ (Osten, S. 93). Ohne die Stiftung geschwisterlicher Intentionalität und solidarischer Handlungen kann den Inkarnationen Mephistos und seiner „veloziferischen“ Helfer Habebald, Raufebold und Haltefest (Osten, S. 104) in Gestalt der Diktatoren unserer Zeit und deren Handlangern nichts entgegengesetzt werden. Diese Putins nutzen heute auf das Entstellendste, was Goethe, bezogen auf das frühe 19. Jahrhundert, als „Phrasensprache“ ausmachte, womit er die „sich abzeichnende Deutungshoheit der Welt durch die Repräsentanten der beschleunigten Kommunikation“ monierte (Osten, S. 105), die heute allerdings nach deren maßgeschneiderten Machtinteressen, also ungeachtet der Wirklichkeit, weltanschauungsgenerierend manipuliert wird. Realitätsruinierend hat es „militärische Spezialoperation“ anstatt „Vernichtungskrieg“ zu heißen, und das „Brudervolk“ mutiert zu „Nazis“, die als zu hassende Fremde gemäß dem Ansinnen der die Souveränität eines Staates mit Füßen tretenden „Entgrenzung des Raumes“ (Osten, S. 127) zu liquidieren sind. Dass durch derartige Kriege und die weltweiten Folgen, auch die unmittelbar (etwa durch brennende Ölterminals) klimaschädlichen und die der „Schuldenakrobatik“ (Osten, S. 110), der großen Herausforderung für uns Menschen, den dem Anthropozän geschuldeten Teil des Klimawandels noch effektiv zu begegnen, um unseren Kindern, Kindeskindern … ein gutes Leben nicht unmöglich zu machen, schlimmstenfalls nicht mehr rechtzeitig entsprochen werden kann, ist alles andere als ein Kollateralschaden.
An das Volk der Dichter und Denker, insbesondere dessen Regierende: „Suche nicht vergebne Heilung! / Unser Krankheit schwer Geheimnis / Schwankt zwischen Übereilung / Und zwischen Versäumnis.“
So lautet das Goethe-Zitat auf dem Klappentext der erhellenden und relevante Impulse schenkenden Schrift über den kranken Zustand unserer Welt des Lebens als der eigentlich schönsten Erfindung der Natur (Osten, S. 63).
Liebe Gabriele, vielen Dank für diesen wunderbaren so bereichernden Kommentar und Deine Weiterführung!